„Mut ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann“

16.03.2023

Eine lebensverändernde Diagnose. Die Hilflosigkeit im Krankenbett. Oder Verzweiflung angesichts von Krieg, Inflation und Pandemie – bei vielen Menschen macht sich ein Ohnmachtsgefühl breit. Bestseller-Autorin Melanie Wolfers weist den Weg aus der Negativspirale.

Schon der Titel des neuen Buches der Philosophin, Theologin und Podcasterin (melaniewolfers.de/podcast/) verheißt Motivation: „Nimm der Ohnmacht ihre Macht“ (bene!, 205 S., € 20) ist eine Anleitung zum Glücklichsein – allen Widrigkeiten zum Trotz. Als Ordensmitglied der Salvatorianerinnen in Österreich ist Wolfers Expertin für Lebensmut. Wir trafen Melanie Wolfers zum Gespräch.

 

Welche Rolle spielt die vielzitierte Resilienz im Kampf gegen Ohnmacht?

Melanie Wolfers: Dass wir aktiv mit Belastungen umgehen ist richtig und wichtig. Doch ich sehe den Begriff auch kritisch. Denn was ist mit Menschen, die am Ende ihrer Kraft oder etwa ohnmächtig sind, weil sie gerade ein Kind verloren haben? Eine Welt voller resilienter Optimisten ist ein Wunschtraum. Es braucht auch die Fähigkeit, Unabänderliches zu erdulden und das Gefühl von Ohnmacht ins Leben zu integrieren.

Zurzeit nicht leicht. Viele Menschen fühlen sich dem Weltgeschehen hilflos ausgeliefert.

Das muss nicht sein, denn wir können auf sieben Urkräfte vertrauen: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Verbundenheit, Zuversicht, tatkräftiges Hoffen und Innehalten. Sie tragen uns auch durch schwierige Zeiten.

Menschen im Krankenhaus oder Pflegeheim fühlen sich oft ausgeliefert: der Pflege wie Medizin.  Wie können wir das ändern?

Hier gibt es ein strukturelles Machtgefälle, das den Selbstwert untergräbt:  Als Patient*in fühle ich mich körperlich elend und bin in einer fremden Umgebung. Doch jemand steht an meinem Bett und weiß es besser. Da fühlt man sich schnell hilflos. Für Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, ist das Wissen um diese Ohnmacht essenziell. Sie können sensibler werden und nicht zum dritten Mal ins Fettnäpfchen treten. Zum Beispiel dadurch, dass sie mit Patientinnen und Patienten nicht in Medizindeutsch sprechen, sondern einer verständlichen Sprache.

Sie schreiben: Ohnmacht ist das am meisten unterdrückte Gefühl in der westlichen Gesellschaft.  Warum ist es so schwer zuzugeben, dass wir Hilfe benötigen: von Mitmenschen, Pflegenden, Psychologinnen und Psychologen oder Ärztinnen und Ärzten?

Als moderne Gesellschaft haben wir uns Selbstbestimmung, Kontrolle und Selbstoptimierung auf die Fahnen geheftet. Ein Ohnmachtsgefühl ist nicht geduldet. Am Schulhof heißt es oft: „Du Opfer!“ Kein Mitgefühl, sondern eine Beleidigung.

Wie können Menschen angesichts der Diagnose einer ernsten Krankheit Ohnmacht vermeiden?

Gefühle von Ohnmacht, Wut und Angst lassen sich nicht vermeiden. Im Buch schildere ich die Geschichte einer Frau nach einer lebensverändernden Diagnose. Sie beschreibt ihre schwere chronische Krankheit so: In ihrem Haus hatte sich ein lästiger Untermieter eingenistet, den sie trotz zahlreicher Versuche nicht loswurde.  Als sie ihn irgendwann notgedrungen akzeptierte, veränderte sich vieles. Sie fügte sich in das Unvermeidliche und fand aus der passiven Rolle heraus. Sie wurde wieder offen für andere Aspekte des Lebens. Und manchmal sogar dankbar für das Gute, das es ja auch noch gab.

Führt unterdrückte Ohnmacht zu Krankheiten: Burnouts, Depressionen etc.?

Ohnmacht ist ein Gefühl, das zum Leben gehört.  Wir müssen einen guten Umgang lernen. Und unterscheiden: Bin ich wirklich so ohnmächtig, wie ich mich fühle? Durch die Drehung in der Negativspirale kann Ohnmacht zu depressiven Verstimmungen beitragen.  Aber Depressionen und Burnouts sind immer multikausal.

Sie schreiben: Die Maske, unter der sich Ohnmacht am häufigsten versteckt, ist Wut.  Wir wissen:  Wut kann krank machen.  Wie gehen wir damit um?

Viele empfinden lieber Wut, als dass sie ihre Ohnmacht fühlen. Es ist zum Beispiel viel leichter, auf eine geliebte Person wütend zu sein, als sich den Schmerz über die Distanz und Entfremdung einzugestehen. Wichtig ist, dass wir unsere Wut und Ohnmacht wahrnehmen lernen, sie uns eingestehen und dann gestalten. Den beiden Gefühlen also nicht blind freien Lauf lassen, denn ohnmächtige Wut kann gefährlich sein.

Dafür braucht es Mut. Kann jeder Mensch mutig sein?

Hilflosigkeit und Ohnmacht gehören zu unserem Leben – wir haben nicht alles in der Hand. Doch wir sind nicht machtlos ausgeliefert. Freude und Dankbarkeit etwa dämmen diese Gefühle ein. Sie sind Mutmacher und können erlernt werden. Mut ist wie ein Muskel:  Wird er trainiert, wächst er.  Jeden Tag ein bisschen mehr.

Haben mutige statt ohnmächtige Patient*innen bessere Heilungschancen?

Ein wichtiger Faktor gegen Ohnmacht ist Zuversicht. Die Universität Marburg untersuchte in einer Studie Menschen vor einer Herz-Operation. Die erste Gruppe malte sich zuvor positive Bilder ihrer Zukunft aus, die zweite nicht. Sechs Monate danach zeigte sich: Gruppe eins hatte weniger Beschwerden und war körperlich aktiver.  Wir sind eine Leib-Seele-Einheit.

In der Corona-Pandemie wurde in der Gesellschaft viel Porzellan zerschlagen: Zwei Lager standen sich feindselig gegenüber.  Auch ein Gefühl von Ohnmacht. Ihr Lösungsvorschlag?

Leider habe ich keinen, denn sonst würde ich wohl den Gesellschafts-Nobelpreis bekommen. Und ja, Sie haben recht: Es weckt Ohnmachtsgefühle, wenn man beispielsweise in der Partnerschaft erlebt:  Wir lieben uns, sitzen gemeinsam am Frühstückstisch, aber können einander nicht erreichen, sondern leben in verschiedenen Welten. Hier scheint mir wichtig, dass wir einander nicht aus den Augen verlieren, im Gespräch bleiben – vielleicht auch über dieses quälende Gefühl am Frühstückstisch. 

Sie schreiben: Kontrolle ist gut, aber Vertrauen besser.  Warum?

Weil das Leben unberechenbar ist.  Wir müssen mit Ungewissheit umgehen lernen. Unsere Kraft heißt Vertrauen: in uns selbst, andere Menschen und ins Leben. Und übrigens:  Vertrauen ist die Norm! Beim Betreten eines Fußgängerübergangs vertrauen wir auf das Funktionieren der Ampel, die Autofahrer und unsere Augen.  Vertrauen ist in den meisten Situationen begründet.  Aber bitte kein blindes Vertrauen.

Sie studierten Theologie, arbeiteten als Hochschulseelsorgerin und sind Salvatorianerin. Welche Rolle spielt der Glaube für ein gelungenes, glückliches und mutiges Leben?

Studien zeigen, dass Religion und Spiritualität Kraft spenden, gerade in Krisenzeiten. Wenn ich spüre: Ich bin im Universum nicht allein, ich bin eingebettet in ein großes Ganzes, dann weckt das Vertrauen und Zuversicht. Für mich persönlich bedeutet Glauben: Ich vertraue auf einen guten Grund des Lebens. In allen und allem ist ein göttlicher Funke – auch in dem, was mir entgegenkommt. Und ich hoffe darauf:  Wo ich persönlich und wo wir als Menschheit mit unseren Kräften am Ende sind, ist es Gott noch lange nicht.
 

© Ulrik Hölzel