Dr. Michael Heinisch: „Wir dürfen niemanden bei der Digitalisierung verlieren“

25.01.2024

Die Digitalisierung soll den Menschen in den Mittelpunkt stellen und unser aller Leben verbessern. Das ist der Kerngedanke des Digitalen Humanismus. Im Buch „Die Praxis des Digitalen Humanismus“ hat Herausgeber Georg Krause 22 ausgewählte Expert*innen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft versammelt und viele Praxisbeispiele zusammengetragen. Einer der Gesprächspartner ist Dr. Michael Heinisch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe.

 

In Ihrem Interview für das Buch „Die Praxis des Digitalen Humanismus“ betonen Sie, dass die Umsetzung des Digitalen Humanismus in Form der Patient*innenzentrierung erfolgen muss. Was genau meinen Sie damit?

Die Digitalisierung läuft, ist nicht mehr zu stoppen und wird Teil des Gesundheitswesens sein. Jetzt müssen wir darauf achten, dass wir der Digitalisierung die richtige Richtung geben. Einerseits technologisch, indem wir nur Dinge anbieten, die den Menschen – Patienten wie Mitarbeitern - wirklich dienlich sind und nicht nur Selbstzweck sind. Auf der anderen Seite braucht es aber auch die richtige Wertehaltung.

Technologie kann auch großes Unheil anrichten.

Genau darum geht es. Und das beschäftigt derzeit sehr viele Menschen. Erst kürzlich gab es bei OpenAI, der Firma hinter dem KI-basierten Konversationstool ChatGPT, eine heftige Diskussion darüber, ob das Unternehmen eine gemeinnützige oder eine kommerzielle Richtung einschlagen soll. Gewonnen hat diese Diskussion schließlich die kommerzielle Fraktion. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass sich Organisationen wie wir, die den Auftrag haben, für die Menschen da zu sein, besonders intensiv mit Wertehaltungen auseinandersetzen.

Sie sagen im Interview auch, dass die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in den bestehenden Strukturen des Gesundheitssystems mit tendenziell immer weniger Personal perspektivisch nicht mehr befriedigt werden kann. Ist die Digitalisierung die Lösung für dieses Problem?

Wir haben im Gesundheitswesen ein Problem mit einer sich zunehmend öffnenden Schere von Angebot und Nachfrage. Aufgrund der alternden Bevölkerung haben wir zu wenig Mitarbeiter, andererseits steigt der Bedarf nach Gesundheitsleistungen. Da gibt es eine Lücke, die wir schließen müssen. Und da ist Technologie sicherlich eine Maßnahme, um das zu erreichen. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, warum die Digitalisierung im Gesundheitswesen von entscheidender Bedeutung ist. Im Gesundheitswesen haben wir es mit unendlich vielen Datenpunkten zu tun, und es werden aufgrund sich rasant entwickelnder Diagnosemöglichkeiten täglich mehr. Aber irgendjemand muss diese Datenpunkte zu Informationen veredeln, um damit etwas anfangen zu können, zum Beispiel eine Diagnose zu stellen oder eine Therapieentscheidung zu treffen. Das wiederum geht nur mit technologischer Unterstützung. Und noch ein dritter Punkt, warum die Digitalisierung im Gesundheitswesen so wichtig ist: In der Patient-Arzt-Beziehung gibt es sehr viele Schnittstellen, potenziell täglich, wo der Mensch Fragen hat, die aber bisher nur beim Arztbesuch oder im Krankenhaus geklärt werden konnten. Idealerweise sollten diese Informationen aber laufend ausgetauscht werden, beispielsweise wie der Stoffwechsel laufend funktioniert oder wie sich chronische Krankheiten entwickeln. Auch in solchen Situationen bietet sich die Technologie als Schlüssel an.

Diese unendliche Menge an Datenpunkten ist ohne Künstliche Intelligenz kaum auszuwerten.

Der Hämatologe Christoph Huber, Mitbegründer von BioNTech und Grandseigneur der Medizin, sagte in einem Gespräch für unseren „Visionsprozess 2045“: „Medizin ohne Künstliche Intelligenz wird es nicht mehr geben.“

Was ist bei der Entwicklung von Digitalisierungstools zu beachten?

Zuallererst müssen die Menschen, die es betrifft, in die Entwicklung eingebunden werden. Früher wurden IT-Projekte top down abgewickelt. Im Management wurde eine Entscheidung getroffen, die dann in die Abteilungen durchgestellt und bestenfalls noch kundenspezifisch angepasst wurde, sodass die Tools halbwegs brauchbar waren. Das hat sich bei uns in der Vinzenz Gruppe komplett umgekehrt. Wir entwickeln diese Tools gemeinsam mit den Patienten und den Mitarbeitern bottom up und skalieren die Lösung dann nach oben.

Allerdings sind nicht alle Patient*innen in der Lage oder willens, diese digitalen Werkzeuge zu nutzen.

Deshalb muss die Digitalisierung barrierefrei sein und darf keine gesellschaftliche Gruppe ausschließen, es darf keine Zweiklassenwelt geben, eine analoge und eine digitale. Wir dürfen niemanden bei der Digitalisierung verlieren, das ist ganz wichtig. Und es darf nie eine Maschine über einen Menschen entscheiden. Die Entscheidung muss immer der Mensch treffen, auch weil ein Mensch die jeweilige Situation in ihrer Ganzheit betrachten kann. Dazu gehört zum Beispiel auch die emotionale Situation, die es im Dreieck zwischen Patient, Pflege und Arzt immer gibt. Denn eine Therapie, die logisch ist und faktenorientiert notwendig erscheint, kann in der konkreten Situation trotzdem die falsche sein.

Für Sie ist es wichtig, dass bei der Digitalisierung immer der Mensch im Mittelpunkt steht.

Technologie ist nicht das Ziel, sondern der Weg zum Ziel. Technologie ist ein wertvolles Instrument, von denen es im Gesundheitswesen viele gibt. Technologie soll helfen, Entscheidungen besser und einfacher zu treffen und sie soll von administrativen Tätigkeiten entlasten.

Die Vinzenz Gruppe hat Mitte September das Patient*innenportal Hallo Gesundheit gelauncht, einen digitalen Assistenten für Termine, Befunde und Sprechstunden. In der Startphase sind neben den Ambulanzen des Barmherzige Schwestern Krankenhauses Wien auch das Göttliche Heiland Krankenhaus Wien mit der Plastischen und Rekonstruktiven Chirurgie sowie der Adipositas-Ambulanz eingebunden. In naher Zukunft sollen die Funktionen sukzessive ausgebaut und auf weitere Einrichtungen der Vinzenz Gruppe ausgeweitet werden. Was ist neu an Hallo Gesundheit?

Digitalisierung gibt es in der Vinzenz Gruppe schon lange, so wurden früher zum Beispiel die Patientenakte digitalisiert, um von überall darauf zugreifen zu können. Mit Hallo Gesundheit haben wir jetzt aber eine Digitalisierung, die die Beziehung zwischen Patient und Krankenhaus wirklich verändert. Jetzt steht plötzlich der Mensch, der Patient, im Mittelpunkt der Technologie. Früher haben wir nur unsere internen Prozesse digitalisiert, verändert, sicherer und transparenter gemacht. Jetzt aber steht der Mensch im Mittelpunkt der Technologie – und nicht sein Befund oder die Administration. Das ist neu.

Was haben Sie in den ersten drei Monaten seit dem Start von Hallo Gesundheit gelernt?

Wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt dieser Digitalisierungstools stellen, hat das natürlich Auswirkungen auf den gesamten Apparat. Wenn ein Patient plötzlich die Möglichkeit hat, von zu Hause aus Termine in den Ambulanzen zu buchen, hat das enorme Auswirkungen auf uns. Weil nicht wir entscheiden, wann der Patient den Termin bekommt, sondern er. Das ist eine echte Herausforderung und wir stehen erst am Anfang. Durch diese Patientenzentrierung bekommt die Digitalisierung eine ganz andere Verbindlichkeit.

Und was haben die Mitarbeiter von der Digitalisierung?

Wir müssen in die Digitalisierungsangebote Services integrieren, die auch den Mitarbeitern dienlich sind. Nur ein Beispiel: Nicht jede Patientin und jeder Patient ist gut vorbereitet, wenn er zu einem Termin in die Ambulanz kommt. Oft fehlen Befunde und es müssen noch viele Fragen geklärt werden, das kostet Zeit. Ich würde mir wünschen, dass bestimmte Unterlagen und persönliche Daten vorab in einem digitalen Tool ausgefüllt werden müssen. Denn es sollte für die Patienten nicht nur eine Selbstermächtigung geben, sondern auch eine Selbstverantwortung. Für unsere Mitarbeiter wäre das von großem Vorteil. Wenn uns das gelingt, können wir bei den Mitarbeitern viele Punkte sammeln.

Die Vinzenz Gruppe, beteiligt an Ordenskrankenhäusern, ist tief in den christlichen Werten verwurzelt. Humanismus sollte da eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, auch bei der Digitalisierung, oder?

Den Barmherzigen Schwestern, die 1832 mit der Gründung des Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien den Grundstein legten, ist es wichtig, „der Not der Zeit“ zu begegnen und dem Menschen in seiner Ganzheit zu dienen. Wir betrachten also nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Dimension. Damit einher geht natürlich auch, dass wir uns nicht auf die Technologie konzentrieren dürfen, sondern auf das, was für den Menschen daraus entsteht. Ganz besonders sind wir für die Schwachen da und achten darauf, dass niemand ausgeschlossen wird und dass durch die Technologie nicht die Beziehung zwischen den Menschen verloren geht. Ganz im Gegenteil – diese Beziehung soll durch die Technologie gestärkt werden.

 

Das Interview führte Karl Abentheuer
© msg Plaut AG/APA-Fotoservice/Juhasz Fotograf/in: Krisztian Juhasz